Herr Köhnke, Sie haben eine neue Enzymgruppe entdeckt – passiert Ihnen das öfter?
Köhnke: (lacht) Jein! Unsere Arbeitsgruppe "Strukturbiologie biosynthetischer Enzyme" ist natürlich immer auf der Suche nach neuen Verbindungen und Reaktionen. Dabei stoßen wir auch auf Neues und bislang Unbekanntes – das ist ja unser grundsätzliches Forschungsziel. Aber so etwas Ungewöhnliches wie in unserer aktuellen Studie ist dann natürlich schon ein echter Glücksgriff!
Und wie kam es zu dieser Entdeckung?
Köhnke: In den vergangenen fünf Jahren haben wir uns mit der Biosynthese von Bottromycin beschäftigt. Das ist ein antibiotisch wirkender Naturstoff, den das Bodenbakterium Streptomyces bottropensis zur Abwehr gegen andere Mikroorganismen herstellt. Er wirkt gegen eine ganze Reihe von Bakterien, darunter auch multiresistente Enterococcen- oder Methicillin-resistente Staphylococcus aureus-Stämme (MRSA). Für eine mögliche medizinische Anwendung ist Bottromycin daher durchaus interessant. Dafür ist es wichtig zu verstehen, wie es auf natürlichem Wege in den Bakterien synthetisiert wird, und welche Enzyme daran beteiligt sind. Viele Schritte der Biosynthese konnten wir schon nachvollziehen. Bei einem der letzten gab es allerdings noch ein ziemlich großes Fragezeichen.
Warum, was war ungewöhnlich?
Köhnke: Ein Eiweißbaustein, eine Aminosäure namens Asparaginsäure, war nicht in ihrer normalen Form, sondern in der ihres Spiegelbilds in das Bottromycin-Molekül eingebaut. Prinzipiell können viele chemische Verbindungen als Bild oder Spiegelbild vorkommen – so wie rechte Hand und linke Hand. Allerdings kommen sämtliche Aminosäuren aufgrund ihres Herstellungsprozesses in der Zelle zunächst ausschließlich in der linkshändigen Form vor. Rechtshändige Aminosäuren gibt es in Organismen nur in absoluten Ausnahmen. Eine spontane Umformung der Asparaginsäure innerhalb des Bottromycin-Vorläufermoleküls ist zwar möglich, hielten wir aber für unwahrscheinlich. Wir vermuteten dahinter eher die Machenschaften eines Enzyms...
...und damit lagen Sie richtig.
Köhnke: Ja, gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern konnten wir zeigen, dass die sogenannte Bottromycin-Epimerase (BotH) dahintersteckt. Sie gehört zu den alpha/beta-Hydrolasen, die – als eine der größten Enzymfamilien überhaupt – für Spaltungsprozesse verantwortlich und an vielen Stellen des Stoffwechsels wichtig sind. Einige von ihnen können sehr besondere Reaktionen auslösen. Eine Epimerase, also ein Enzym, das eine Verbindung in sein Spiegelbild verwandeln kann, gab es unter ihnen bislang aber noch nicht. BotH ist damit die erste bekannte alpha/beta-Hydrolase dieser Art und erstes Mitglied einer neuen Enzymgruppe.
Aus einer Aminosäure ihr Spiegelbild zaubern – wie schafft BotH das?
Köhnke: Auf Biegen und Brechen! (lacht) Ja, das kann man tatsächlich so sagen. Mit Methoden der Kristallographie konnten wir einen Teil der Reaktion sichtbar machen: BotH bindet an das Vorläufer-Molekül von Bottromycin, an dem sich die Asparaginsäure noch in ihrer natürlichen linkshändigen Form befindet. Allein die Bindung ist ausschlaggebend, denn BotH ist alles andere als zimperlich: Es agiert wie eine Art Schraubstock. Die Asparaginsäure wird so gedrückt, gedreht und verbogen, dass schließlich eine Bindung bricht und an anderer Stelle neu gebildet wird. So entsteht die spiegelverkehrte Version der Asparaginsäure im Bottromycin-Molekül.
Warum geschieht das – hat das Spiegelbild günstigere Eigenschaften?
Köhnke: Grundsätzlich kann das Spiegelbild komplett andere Eigenschaften haben als das ursprüngliche Molekül. So ist die Verbindung des Duftstoffs der Zitrone das Spiegelbild des Duftstoffs der Orange. Ein anderes Beispiel ist Thalidomid. Das ist der medizinische Wirkstoff von Contergan, einem Medikament, das Anfang der 1960er Jahre traurige Bekanntheit erlangte. Eine Variante des Moleküls wirkt wie vorgesehen als Schlafmittel. Sein Spiegelbild jedoch, das ebenfalls in Contergan enthalten war, führt zu schweren Schädigungen am ungeborenen Leben. Was die antibiotische Wirkung von Bottromycin angeht: Es gibt keine Unterschiede zwischen dem Naturstoff und einer chemisch hergestellten Variante, bei der die Asparaginsäure nicht gespiegelt ist. Warum der Wechsel von linkshändig nach rechtshändig stattfindet, ob und welche Vorteile damit einhergehen – darüber wissen wir noch nichts. Klar ist aber: Die Mikroorganismen können nur die eine Variante synthetisieren.
Enzyme stehen im Fokus Ihrer Forschungsarbeit. Was fasziniert Sie an diesen Schraubendrehern des Stoffwechsels?
Köhnke: Mikroorganismen sind in der Lage, hochkomplexe Verbindungen herzustellen, die im Chemielabor häufig nur schwer nachgekocht werden können. Ihre geheime Zauberformel ist ein Arsenal an Enzymen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tun und – Abrakadabra! – entsteht ein antibiotischer Wirkstoff wie Bottromycin, der dem Bakterium gegenüber seinen Feinden und Nahrungskonkurrenten einen echten Überlebensvorteil verschafft. Den Zauberspruch zu entschlüsseln, treibt mich jeden Tag von Neuem an. Denn wenn wir das Zusammenspiel der Enzyme verstehen und wissen, welches Enzym an welcher Schraube des Konstruktionsprozesses dreht, können wir selbst zum Dirigenten werden und potenzielle Wirkstoffe mithilfe von Enzymen im Labor nachbauen und für mögliche medizinische Anwendungen optimieren.
Kooperationspartner der Studie:
Prof. Olga Kalinina, Leiterin der Arbeitsgruppe Wirkstoff-Bioinformatik am HIPS sowie Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes
Prof. Andriy Luzhetskyy, Leiter der Arbeitsgruppe Metabolisches Engineering von Aktinomyzeten am HIPS sowie Professor für pharmazeutische Biochemie an der Universität des Saarlandes
Dr. Andrew Truman, Leiter der Arbeitsgruppe Molecules from Nature am John Innes Center, Norwich, UK
Originalpublikation:
Asfandyar Sikandar, Laura Franz, Sebastian Adam, Javier Santos-Aberturas, Liliya Horbal, Andriy Luzhetskyy, Andrew W. Truman, Olga V. Kalinina and Jesko Koehnke: The bottromycin epimerase BotH defines a group of atypical α/β-hydrolase-fold enzymes. Nature Chemical Biology 2020, doi: 10.1038/s41589-020-0569-y
Das Interview führte Nicole Silbermann