Die Lunge ist ein hochkomplexes Organ, das sich aus über 50 verschiedenen Zelltypen zusammensetzt. In den Lungenbläschen (Alveolen) bildet eine einzelne Zellschicht die Barriere, über die der Austausch von Sauerstoff und CO2 zwischen Lunge und Blutkreislauf stattfindet. Diese auch Blut-Luft-Schranke genannte Barriere muss bei der Verabreichung inhalativer Medikamente auch von den entsprechenden Wirkstoffen überwunden werden, damit sie ihre gewünschte Wirkung entfalten können. Je genauer Forschende die Interaktion von Wirkstoffen mit dieser kritischen Eintrittsbarriere in den Körper verstehen, desto besser können sie Wirkstoffe und Formulierungen so anpassen, dass sie durch die Lunge aufgenommen werden oder in der Lunge wirken.
Am Helmholtz Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), einem Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes, forschen Wissenschaftler:innen mit verschiedensten Ansätzen an neuen antiinfektiven Wirkstoffen. Dabei steht vor allem die steigende Bedrohung antimikrobieller Resistenzen gegen die aktuell eingesetzten Antibiotika im Fokus. Diese Problematik spielt auch bei der Behandlung von Atemwegserkrankungen eine immer größere Rolle. Bei Infektionen der Lunge kommt erschwerend hinzu, dass sich die krankheitsverursachenden Bakterien oftmals in einer Schicht aus zähem Schleim in der Lunge ansiedeln. In diesem sogenannten Biofilm sind die Erreger sowohl vor Zellen des Immunsystems als auch vor einigen Wirkstoffen geschützt und können sich ungehindert vermehren. Dieses spezielle Szenario spielt für die Entwicklung neuer Wirkstoffe eine überaus wichtige Rolle, lässt sich allerdings nur schwer im Labor simulieren. Für die Testung und Charakterisierung entsprechender Medikamente mussten Forschende daher bislang hauptsächlich auf Tiermodelle zurückgreifen.
Um die Anzahl notwendiger Tierversuche zu reduzieren und das Verhalten von Wirkstoffkandidaten in der Lunge auch schon während eines relativ frühen Entwicklungsstadiums untersuchen zu können, hat ein HIPS-Forschungsteam um Dr. Nicole Schneider-Daum und Abteilungsleiter Prof. Claus-Michael Lehr Testsysteme entwickelt, die dies erlauben. Grundlage eines der Systeme ist die eigens dafür etablierte Zelllinie „Arlo“. Hierbei handelt es sich um menschliche Lungenzellen, die genetisch so umprogrammiert wurden, dass sie sich im Labor beliebig oft vermehren lassen und damit in nahezu unbegrenzter Anzahl und in gleichbleibender Qualität für Tests zur Verfügung stehen. Um die komplexe Vernetzung der Zellen in der Lunge nachzuahmen, wenden die Forschenden ein Kultivierungsverfahren auf permeablen Filtermembranen an, bei dem die Zellen an der Luft-Flüssigkeitsgrenze wachsen. Verabreichte Testsubstanzen treffen als Aerosole von oben auf die Zellschicht und der Übergang von Molekülen aus der Luft durch die modellierte Barriere kann gemessen werden.
Um auch eine Lungeninfektion im Labor modellieren zu können, haben Schneider-Daum und ihre Kolleg:innen weiterhin über eine 3D-Bioprint-Technologie bakterielle Biofilme auf Lungenepithelzellen gedruckt. Diese “in vitro Patienten” eignen sich, um die Wirksamkeit neuer inhalierbarer Medikamente in einer frühen Phase bewerten zu können.
Diese Lungen-Modelle sollen zukünftig nicht nur die Entwicklung von Wirkstoffen erleichtern, sondern auch bislang gebräuchliche Tierversuche im Sinne des 3R-Prinzips (Refine, Reduce, Replace) reduzieren und im Idealfall sogar ersetzen.
Für diesen Meilenstein wurden die komplexen Zellkulturmodelle der menschlichen Lunge im April 2024 mit dem saarländischen Forschungspreis „Alternativen zu Tierversuchen“ ausgezeichnet. Dr. Nicole Schneider-Daum erhielt dabei 6.000 € des mit insgesamt 10.000 € dotierten Preises für die Fortsetzung des Projekts.