Bakterien der Gattung Yersinia lösen beim Menschen unter anderem Entzündungen der Darmwand und schwere Durchfallerkrankungen aus. Auch der Erreger der Pest gehört zu dieser Gattung. Jetzt haben Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) gemeinsam mit Kollegen der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Leipzig verschiedene molekulare Schalter in Yersinia pseudotuberculosis entdeckt, die bei einer Temperatur von 37 Grad Celsius ihre dreidimensionale Struktur verändern. Erst dann können sich die Bakterien im Wirt ausbreiten und eine Erkrankung auslösen. Die identifizierten Strukturen bieten Angriffspunkte für künftige Medikamente, die die temperaturabhängige Veränderung blockieren und so die Bakterien unschädlich machen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler nun im angesehenen Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)“.
Die Rolle des Thermometers in den Bakterien übernehmen unter anderem bestimmte RNA-Moleküle; das sind Abschriften der genetischen Information, die in der DNA gespeichert ist. Anhand der Abschriften bauen die Bakterien sämtliche Proteine auf, die sie zum Leben brauchen. Die besonderen RNA-Thermometer falten sich jedoch bei niedrigeren Temperaturen in eine komplexe Struktur, sodass ihr Proteinbauplan dann nicht abgelesen werden kann. Bei höherer Temperatur schmelzen diese Strukturen auf, die RNA wird wieder lesbar. Verschiedene Darmbakterien, wie der Durchfallerreger Yersinia pseudotuberculosis oder der Cholera-Erreger Vibrio cholerae, nutzen diesen Trick, um ihren Wirt zu erkennen: Gelangen sie beispielsweise in einen menschlichen Körper, so steigt die Umgebungstemperatur schnell auf 37 Grad Celsius. Genau bei dieser Temperatur entfalten sich die RNA-Thermometer und machen ihre Information zugänglich.
Seit einigen Jahren ist bekannt, dass eines dieser molekularen Thermometer bei Yersinia ein Gen reguliert, das in das krankmachende Programm der Bakterien involviert ist. Gemeinsam mit den Forschern um Franz Narberhaus von der Ruhr-Universität Bochum wollten Petra Dersch, die am HZI die Abteilung Molekulare Infektionsbiologie leitet, und ihr Postdoktorand Aaron Nuss herausfinden, ob es noch mehr Thermometer in Yersinia gibt, die den Infektionsprozess beeinflussen. Dazu hat das Team Bakterienkulturen bei 25 und bei 37 Grad Celsius wachsen lassen und deren gesamte RNA isoliert. Dann haben sie die RNA von zwei Enzymen zerschneiden lassen. Eines dieser Enzyme schneidet nur zusammengefaltete, doppelsträngige RNA-Bereiche, das andere schneidet nur nicht gefaltete, einzelsträngige RNA. Anschließend wurden alle entstandenen RNA-Moleküle sequenziert.
„Die Hochdurchsatz-Sequenzierung ermöglichte es uns, die gesamte RNA eines Organismus auf einmal zu sequenzieren und die Struktur von über 1750 in der Bakterienzelle enthaltenen RNA-Strukturen gleichzeitig aufzuklären“, sagt Aaron Nuss, und der verantwortliche Doktorand Francesco Righetti aus Bochum ergänzt: „Noch vor wenigen Jahren wäre das ein sehr mühsames und langwieriges Unterfangen gewesen.“ Bei der computergestützten Auswertung haben auch die Bioinformatiker um Peter Stadler von der Universität Leipzig geholfen. Anhand der Ergebnisse konnten die Forscher RNA-Moleküle identifizieren, in denen Bindestellen für die Proteinsynthesemaschinerie bei 25 Grad in doppelsträngigen Bereichen versteckt und dadurch blockiert sind, bei 37 Grad dieser Bereich aber entfaltet und zugänglich ist. Diese Moleküle arbeiten als RNA-Thermometer, die von der Temperatur reguliert werden. Die neu entdeckten Thermometer steuern ganz unterschiedliche Funktionen in den Bakterien, allein 16 von ihnen auch Infektionsprozesse. „Damit haben wir gleich eine ganze Reihe von möglichen Angriffspunkten in Yersinia gefunden, über die sich das Bakterium unschädlich machen ließe“, sagt Petra Dersch. „Eine denkbare Strategie wäre es zum Beispiel, einen Wirkstoff zu konstruieren, der die Entfaltung der RNA-Thermometer blockiert.“ Dabei sei die Konstruktion allerdings das geringste Problem, denn der Wirkstoff müsse bei einer Infektion auch durch den Körper zu den Bakterien gelangen und dort von ihnen aufgenommen werden – eine bislang noch ungelöste Herausforderung.
Die neue Methode, die durch die Kooperation der Forschergruppen entwickelt wurde, eröffnet noch viele weitere Möglichkeiten, denn sie ist universell einsetzbar: „Es spielt keine Rolle, ob wir mit Bakterien, Pflanzen, Tieren oder menschlichen Zellen arbeiten, unsere Methode funktioniert mit allen Organismen“, sagt Franz Narberhaus. Außerdem sei sie nicht nur für die Untersuchung von Temperatureinflüssen auf die RNA-Struktur anwendbar, sondern von ganz unterschiedlichen Umweltbedingungen wie Nährstoffmangel oder Schadstoffbelastung, ergänzt Dersch.
Originalpublikation:
Temperature-responsive in vitro RNA structurome of Yersinia pseudotuberculosis: Francesco Righetti, Aaron Mischa Nuss, Christian Twittenhoff, Sascha Beele, Kristina Urban, Sebastian Will, Stephan H. Bernhart, Peter F. Stadler, Petra Dersch, and Franz Narberhaus. PNAS, 2016, DOI: 10.1073/pnas.1523004113