Portrait
Prof. Martin Korte
Interview

Martin Korte: „Long COVID kann auch nach mildem Verlauf von COVID-19 auftreten“

Prof. Martin Korte erforscht den Einfluss von Infektionen und damit verbundenen Entzündungen auf neurodegenerative Erkrankungen, die beispielsweise Lernprozesse oder das Gedächtnis schädigen. Am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) leitet Korte die Arbeitsgruppe „Neuroinflammation und Neurodegeneration“, an der Technischen Universität Braunschweig steht er dem Zoologischen Institut vor und hat eine Professur für Zelluläre Neurobiologie inne. Ein noch neues Forschungsgebiet sind die unter der Bezeichnung „Long COVID“ zusammengefassten Symptome, die nach einer überstandenen COVID-19-Erkrankung bei rund zehn Prozent der Erkrankten noch über Monate auftreten. Im Interview erklärt Martin Korte diese Langzeitfolgen, über die er nun auch ein Sachbuch veröffentlicht hat.

Herr Prof. Korte, was genau versteht man unter Long COVID?
Long COVID ist weder in Fachliteratur noch in der öffentlichen Wahrnehmung ein exakt definierter Begriff. Ich verstehe darunter im weitesten Sinne Anzeichen, Symptome und Folgeerscheinungen, die nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen bis hin zu Monaten und Jahren anhalten oder sich entwickeln. Das können zum Beispiel Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, Sprachschwierigkeit, Geruchsverlust, Herzrasen und Schwindelgefühl sowie Kurzatmigkeit sein. Die Symptome sind in der Regel multisystemisch, können in Form eines schubartig wiederkehrenden Musters auftreten und sich im Laufe der Zeit verschlimmern, wobei auch Monate oder Jahre nach der Infektion anhaltende, schwere Symptome möglich sind. Bemerkenswert ist hierbei, das Long COVID nicht nur nach schweren Verläufen von COVID-19 auftritt, sondern auch in etwa sechs bis zehn Prozent der Betroffenen nach einem milden COVID-19-Verlauf.

Was macht das Coronavirus speziell mit dem Gehirn der Infizierten, das zu solch langanhaltenden Beschwerden führt?
Mögliche Mechanismen, die zur COVID-19-bedingten kognitiven Beeinträchtigung beitragen, sind die folgenden: Die starke Immunreaktion auf das SARS-CoV-2-Virus verursacht eine Neuroinflammation im Gehirn durch systemische Chemokine (Botenstoffe) und aktivierte Immunzellen, die in das Gehirn einwandern. Zytokine des Zentralen Nervensystems (ebenfalls Botenstoffe), Chemokine und dadurch bedingt reaktive Mikroglia – bestimmte Immuneffektorzellen – dysregulieren mehrere Nervenzelltypen. Zudem stören sie das Myelin-Gleichgewicht das wichtig ist für die Geschwindigkeit der Fortleitung von Nervenimpulsen und für die synaptische Plastizität. Sie beeinträchtigen die Neurogenese im Hippocampus, also die Bildung neuer Nervenzellen, und lösen möglicherweise eine neurotoxische Reaktivität bei Astrozyten (bestimmte Nervenzellen) aus, was jeweils die Funktion der neuronalen Schaltkreise und damit die Gehirnleistung beeinträchtigen könnte. Eine SARS-CoV-2-Infektion kann latente Herpesvirusinfektionen reaktivieren, vor allem des Epstein-Barr-Virus (EBV), was wiederum weitere Entzündungen auslösen kann. Auch Autoantikörper und T-Zellen können bei Patienten eine autoimmun-induzierte Gehirnentzündung verursachen und könnten zu einer anhaltenden immunvermittelten Schädigung beitragen. Eine direkte neuroinvasive Infektion wird zwar selten festgestellt, kann aber ebenfalls zu Neuroinflammation führen und den Energiestoffwechsel der Nervenzellen stören, was weitere Entzündungen auslösen kann. Durch Thrombenbildung und verengte Blutgefäße kann die Sauerstoffversorgung des Gehirns leiden, denn das Gehirn hat besonders viele kleine Blutkapillaren und hängt in einem besonderen Maße von der Blutversorgung ab, da es selbst keine Energie speichert.

Sind bestimmte Personengruppen besonders von Long COVID betroffen?
Zwei Drittel aller Erkrankten sind Frauen, die meisten unter 60 Jahre alt und bemerkenswerterweise oft auch nach vergleichsweise milden COVID-19-Verläufen betroffen. Aber auch Menschen mit Diabetes, Atopie und anderen Autoimmunerkrankungen gehören zu den Risikogruppen. Bemerkenswert ist vor allem, dass im Unterschied zu lebensbedrohlichen Verläufen einer akuten COVID-19-Erkrankung, von denen vor allem ältere Männer über 60 Jahre betroffen sind, Long COVID doppelt so häufig bei Frauen im Vergleich zu Männern auftritt. Dies entspricht exakt dem erhöhten Risiko von Frauen, an Autoimmunerkrankungen zu leiden.

Wie schützt man sich am besten vor Long COVID und gibt es Therapiemöglichkeiten, wenn es einen doch erwischt hat?
Eine Dreifach-Impfung gegen SARS-CoV-2 reduziert das Risiko um 15 bis 50 Prozent, die präzise Datenlage ist noch unklar. Sicher ist, dass eine Impfung eine Risikoreduktion bedeutet, aber eine Impfung allein kann Long COVID nicht verhindern. Grundsätzlich wäre also das wichtigste, eine Infektion zu verhindern. Und hier gilt für mich weiter, in Innenräumen, die schlecht belüftet sind und wo man die Abstandsregeln nicht einhalten kann, eine FFP2-Maske zu tragen.

Es gibt bisher keine etablierten ursächlichen Therapien. Erprobt wird, ob immundämpfende Medikamente gegen Autoimmunerkrankungen auch bei Long COVID-Patienten helfen. In diesem Zusammenhang wird auch untersucht, ob Antihistaminika, welche normalerweise gegen Heuschnupfen eingesetzt werden, auch bei Long COVID die Symptome eindämmen können. Ein anderer Nebenaspekt ist, dass Antihistaminika eventuell indirekt im Darm helfen, dort durch eine Veränderung es Mikrobiomes noch vorhandene Virenreste zu eliminieren.

Erste erfolgversprechende Untersuchungen gibt es auch mit der „hyperbaren Sauerstofftherapie“: Hierbei wird in einer Überdruckkammer 100 Prozent Sauerstoff verwendet, und dies soll nicht nur die Blutsättigung mit Sauerstoff erhöhen, sondern auch die Bildung neuer Gefäße anregen (Angiogenese), die dann virusbedingt verstopfte Gefäße ersetzen können. Auch ist gezeigt, dass sie die Anpassungsfähigkeit (Plastizität) des Nervensystems auf unterschiedliche Belastungen verbessert. Die Wirksamkeit dieser Therapieversuche ist aber noch nicht in klinischen Studien endgültig belegt. Daher sollten sie nicht in Eigenregie durchgeführt werden, da bei bestimmten Patientengruppen schwerwiegende Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind.

Interessanterweise hat sich auch gezeigt, dass eine Impfung während einer Long COVID-Erkrankung genauso wie die Verabreichung des antiviralen Medikamentes PaxlovidR die Symptome bei einer Subgruppe von Patienten verringern. Hier könnte der Grund darin liegen, dass die erneute Anregung des Immunsystems durch die Impfung oder durch Medikamente gegen SARS-CoV-2 Restvirus aus dem Körper endgültig eliminiert.

Vielversprechend für Menschen mit Thrombenbildung in verengten Blutgefäßen nach einer SARS-CoV-2-Infektion ist eine Behandlung mit gerinnungshemmenden Medikamenten, die diese Thromben auflösen. Auch hier wurden bereits klinische Studien gestartet.

Welche Erkenntnisse aus Ihrer bisherigen Forschung konnten Sie auf COVID-19 übertragen und laufen dazu aktuell Projekte in Ihrer Arbeitsgruppe?
Meine Arbeitsgruppe am HZI, „Neuroinflammation und Neurodegeneration“ (NIND), hat bereits in einer Publikation 2018 zeigen können, dass zumindest in Mausmodellen virale Infektionen – auch wenn sie das Gehirn nicht direkt infizieren – zu einer Neuroinflammation führen können, die Mikrogliazellen über einen langen Zeitraum aktiviert werden (drei Monate in jungen Tieren, sogar noch länger in alten Tieren) und das Lernvermögen eingeschränkt war (Hosseini et al., JNS, 2018). Aktuell wollen wir zusammen mit den HZI-Arbeitsgruppen um Andrea Kröger und Luka Cicin-Sain untersuchen, ob sich frühe Biomarker für Long COVID entdecken lassen und was mögliche Therapieoptionen sein könnten. Hierbei favorisieren wir Inhibitoren eines Aktivierungskomplexes in Mikrogliazellen, wie wir ihn schon für eine Publikation im vorletzten Jahr in einem Maus-Alzheimermodell haben erfolgreich einsetzen können (Lonnemann et al., PNAS, 2020). Dies hat den Beginn einer Neuroinflammation unterbunden. Alternativ untersuchen wir auch, inwieweit ein Abstellen einer begonnenen Neuroinflammation ein therapeutischer Weg sein könnte. Hierzu haben wir ebenfalls erste Daten in verschiedenen Mausmodellen sammeln und publizieren können (Lonnemann et al., elife, 2022). Das gilt es, jetzt auf die SARS-CoV-2-Situation zu übertragen, sicher auch in Zusammenarbeit mit klinischen Gruppen und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).

Interview: Andreas Fischer
Veröffentlichung: Oktober 2022

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Dr. Andreas Fischer
Wissenschaftsredakteur