Wie andere Viren ist auch HIV-1 nicht in der Lage, eigenständig Proteine herzustellen. Um sich zu vermehren, sind die Viren daher auf die Wirtszellen angewiesen: Sie dringen in die Wirtszellen ein und kapern den Translationsprozess, mit dessen Hilfe aus einer Boten-Ribonukleinsäure (mRNA, von engl. messenger ribonucleic acid) Proteine gebildet werden. „In dieser Studie haben wir Ribosomen-Profiling, RNA-Sequenzierung und RNA-Strukturanalysen kombiniert. Unser Ziel war es, die virale und zelluläre Translation sowie Pausen der viralen Vermehrung mit bisher unerreichter Detailtiefe zu kartieren“, erklärt die korrespondierende Autorin Neva Caliskan. Sie ist ehemalige Gruppenleiterin am Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI), einem Standort des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Kooperation mit der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), und derzeit Direktorin der Abteilung für Biochemie III an der Universität Regensburg.
Die „Cheat Codes“ der viralen Translation
Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehörte die Entdeckung bislang unbekannter Elemente in der viruseigenen RNA, sogenannter vorgelagerter (uORFs, von engl. upstream open reading frames) und interner, offener Leseraster (iORFs, von engl. internal open reading frames). Solche offenen Leseraster sind Sequenzen in der DNA, die potenziell für ein Protein kodieren können. Diese „versteckten Genfragmente“ könnten also entscheidend dazu beitragen, die Produktion viraler Proteine zu kontrollieren, und die Interaktion mit dem Immunsystem des Wirts beeinflussen. „uORFs und iORFs können als Regulatoren wirken, die eine präzise Steuerung und ein genaues Timing der Proteinsynthese sicherstellen“, erläutert Anuja Kibe, Postdoktorandin am HIRI und Erstautorin der Studie, die im Fachmagazin Nature Structural and Molecular Biology veröffentlicht wurde.
Ein weiterer bedeutender Befund war eine komplexe RNA-Struktur in der Nähe einer kritischen Stelle der Leserasterverschiebung des viralen Genoms. Diese Stelle ist entscheidend für die Produktion der korrekten Mengenverhältnisse der beiden Schlüsselproteine Gag und Gag-Pol, die für die Bildung infektiöser Partikel und die Vermehrung von HIV-1 erforderlich sind. Die Forschenden zeigten, dass diese RNA-Faltung nicht nur Ribosomenkollisionen stromaufwärts der Stelle fördert – ein Mechanismus, der offenbar die Translation reguliert – sondern auch die Effizienz der Leserasterverschiebung aufrechterhält. „Unser Team konnte außerdem nachweisen, dass die gezielte Ansprache dieser RNA-Struktur mit Antisense-Molekülen die Effizienz der Leserasterverschiebung um nahezu 40 Prozent reduzieren kann, was eine vielversprechende Grundlage für die Entwicklung antiviraler Medikamente bietet“, berichtet Caliskan.
Ein Spiel der Prioritäten
Redmond Smyth, ehemaliger Helmholtz-Nachwuchsgruppenleiter am HIRI und derzeit Gruppenleiter am Centre National de Recherche Scientifique (CNRS) im französischen Straßburg, erläutert: „Interessanterweise zeigte unsere Analyse, dass die HIV-1-mRNAs zwar während der gesamten Infektion effizient in Proteine translatiert werden, das Virus aber die Proteinproduktion des Wirts unterdrückt, insbesondere zu Beginn der Translation.“ Auf diese Weise kann HIV-1 seine eigenen Bedürfnisse priorisieren und gleichzeitig die Abwehrmechanismen des Wirts lahmlegen. Dies ermöglicht dem Virus eine geschickte Manipulation der Wirtszellmaschinerie auch unter Stressbedingungen.
Mehr als nur „Verkehrsstaus“
Die Forschenden beobachteten zudem, dass Ribosomen an bestimmten Regionen der viralen RNA kollidieren, insbesondere stromaufwärts der Leserasterverschiebungsstelle. „Diese Kollisionen sind nicht zufällig, sondern streng regulierte Pausen, die möglicherweise beeinflussen, wie Ribosomen mit nachgelagerten RNA-Strukturen interagieren“, sagt Florian Erhard, Mitautor der Studie und Inhaber des Lehrstuhls für Computational Immunology an der Universität Regensburg.
Insgesamt liefert die Studie nicht nur eine detaillierte Karte des translationalen Geschehens in HIV-1-infizierten Zellen. Sie bietet auch eine Fülle potenzieller Zielstrukturen für therapeutische Interventionen. Die Identifikation von RNA-Strukturen und genetischen Elementen, die für die virale Replikation entscheidend sind, eröffnet neue Möglichkeiten zur Entwicklung von Medikamenten, die darauf abzielen, diese Prozesse zu stören. Caliskan ergänzt: „Wenn wir besser verstehen, wie das Virus unsere Zellen geschickt manipuliert, können wir innovative Therapien entwickeln, die eines Tages den Spieß umdrehen und das Virus selbst austricksen könnten.“