Poliomyelitis

Abbildung eines Poliovirus
Poliovirus

Das Poliovirus, gehört zur Gruppe der Enteroviren, die sich im menschlichen Darm vermehren können, und tritt in drei Typen auf – Typ 2 gilt mittlerweile als ausgerottet, Typ 1 und 3 zirkulieren noch in Endemiegebieten. Die Viren werden unter schlechten hygienischen Bedingungen über den Kontakt mit Körperflüssigkeiten und insbesondere Kotverschmutzungen übertragen.

Der Schrecken, den die Poliomyelitis noch vor einigen Jahrzehnten verbreitete, lässt sich in der westlichen Welt unserer Tage nur mehr schwer vermitteln. Literarische Quellen wie der Roman „Nemesis“ des amerikanischen Autors Philip Roth, der eine Polio-Epidemie in den vierziger Jahren zum Gegenstand hat, geben noch einen Eindruck von der Atmosphäre jener Zeit wieder, als es weder Therapie noch Prävention gegen die Erkrankung gab. Die verbreitete Bezeichnung „Kinderlähmung“ für die Poliomyelitis war allerdings nicht ganz zutreffend: Nur bei einem Teil der Patienten löste die Erkrankung die gefürchteten Verkrüppelungen aus, und Kinder wurden zwar besonders häufig befallen, waren jedoch keineswegs die einzigen Opfer.

Zu den prominentesten erwachsenen Polio-Opfern zählte vermutlich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt – auch wenn Medizinhistoriker mittlerweile die Möglichkeit diskutieren, dass Roosevelts Lähmungen  auch andere Ursachen gehabt haben könnten. In seiner Amtszeit engagierte er sich stark für Wohltätigkeitsorganisationen, die sich der Bekämpfung der Polio widmeten. Noch in den fünfziger Jahren, weiß Prof. Ulrike Lindner, Historikerin an der Universität zu Köln, war Polio in den USA „ein sehr präsentes Thema, fast so stark wie die Atombombe. Vor vielen Kinofilmen liefen Werbetrailer der National Foundation über ihren Kampf gegen Polio.“

Der Erreger, das Poliovirus, gehört zur Gruppe der Enteroviren, die sich im menschlichen Darm vermehren können, und tritt in drei Typen auf – Typ 2 gilt mittlerweile als ausgerottet, Typ 1 und 3 zirkulieren noch in Endemiegebieten. Die Viren werden unter schlechten hygienischen Bedingungen über den Kontakt mit Körperflüssigkeiten und insbesondere Kotverschmutzungen übertragen. In den meisten Fällen (etwa 90 Prozent) verläuft die Infektion unbemerkt oder nur mit schwachen Symptomen. Vielfach bleibt es auch bei einer Fiebererkrankung, häufig mit Durchfall und Erbrechen. Ein Teil der Erkrankten erleidet allerdings einen Befall des Nervensystems. Diese Verlaufsform kann zu Hirnhautentzündungen und den gefürchteten bleibenden Lähmungen und Deformationen führen.

Im Jahr 1955 konnte Jonas Salk die Entwicklung des ersten Impfstoffs erfolgreich abschließen, einer so genannten „Tot-Vakzine“ aus abgetöteten Erregern, die per Spritze verabreicht wurde. Die Anwendung dieses IPV (inaktivierte Poliovakzine) genannten Impfstoffs senkte die Zahl der Neuerkrankungen  in den USA erheblich.  Der kurze Zeit später entwickelte Lebend-Impfstoff OPV (orale Poliovakzine), als so genannte „Schluckimpfung“ verabreicht, brachte den flächendeckenden Durchbruch in den meisten Ländern Europas. In Deutschland wurde OPV ab 1960 (DDR) beziehungsweise 1962 (Bundesrepublik) in großem Stil eingesetzt und führte bald zum weitgehenden Verschwinden der Polio.

„Beide Impfstoffe haben ihre Vor- und Nachteile“, sagt Prof. Carlos Guzmán, Leiter der Abteilung „Impfstoffforschung“ am HZI.

Die IPV-Impfung, die inzwischen überall in Europa Standard ist, schützt die Geimpften zuverlässig vor Erkrankung, d.h. einer Lähmung. Mit IPV geimpfte Personen können sich aber dennoch mit Polio-Viren infizieren und diese unbemerkt ausscheiden und dadurch weiterverbreiten.

Impfempfehlungen des Robert-Koch-Instituts

OPV dagegen enthält lebende, abgeschwächte Viren und immunisiert den Darmtrakt wirkungsvoller. Allerdings besteht immer ein geringes Risiko, dass die Viren mutieren und wieder gefährlicher werden. In Deutschland, wo die Polio ausgerottet ist, wird der Lebendimpfstoff OPV daher nicht mehr eingesetzt.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt  lediglich für Länder wie Pakistan und  Nigeria, wo das Virus noch verbreitet ist, eine Kombination von OPV und IPV.

Weltweit sank dank erfolgreicher Impfkampagnen die Zahl der Erkrankungsfälle um 99 Prozent, von 350 000 im Jahr 1988 auf etwa 400 im Jahr 2013.

Bislang galt die Lehrmeinung, dass Impfungen gegen Polio besonders gut wirken, weil sich die Erreger praktisch nicht verändern – anders als beispielsweise Influenza-Viren, die die saisonale Grippe verursachen. Stabile Oberflächenstrukturen eines Erregers machen es dem Immunsystem leicht, die Erinnerung an sie in einem „molekularen Gedächtnis“ abzuspeichern.

Mittlerweile haben Wissenschaftler allerdings eine beunruhigende  Entdeckung gemacht: Im Kongo entdeckten sie 2010  eine mutierte Form des Erregers, gegen die der gängige Impfschutz wirkungslos ist. 

Da hat sich zum ersten Mal gezeigt, dass auch Polio-Viren „driften“ können, also neue genetische Varianten hervorbringen

Prof. Christian Drosten
Virologe

erklärt Prof. Christian Drosten, Virologe an der Universität Bonn, dessen Team an der Entdeckung beteiligt war.

Für noch riskanter als eine mögliche Ausbreitung solcher Drift-Varianten halten Experten derzeit allerdings die Möglichkeit einer Rückkehr der „klassischen“ Polio-Typen: „Gegenwärtig sehen wir ein Wiederaufleben der Polio in Krisengebieten wie Syrien“, sagt Christian Drosten. In Nigeria, so erklärt Carlos Guzmán, „führte ein Impfboykott vor einigen Jahren zu einem erneuten Ansteigen der Fallzahlen.“

Weil zu Beginn des Jahres 2014 neue Ausbrüche in drei Ländern zu verzeichnen waren – Afghanistan, Irak und Äquatorial-Guinea – erklärte WHO-Generaldirektorin Margaret Chan die Polio-Ausbreitung im Mai sogar zu einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite“ (Public Health Emergency of International Concern).  Ausdrücklich empfahl die Weltgesundheitsorganisation dabei Seuchenbekämpfungs- und Kontrollmaßnahmen für zehn Länder: Äquatorialguinea, Kamerun, Pakistan, Syrien, Afghanistan, Äthiopien, Irak, Israel, Nigeria und Somalia.

Auch Mitteleuropa sollte sich nicht zu sicher fühlen, erklärt Christian Drosten:

In Deutschland ist die Impfabdeckung gegen Polio mittlerweile ziemlich schlecht, auch weil häufig auf eine Auffrischung der Impfungen verzichtet wird. Zudem gibt es kaum noch Grundlagenforschung auf diesem Gebiet. Eine Einschleppung der Viren würde uns vor Probleme stellen.

Prof. Christian Drosten
Virologe